… ist eines der langsamsten Bücher, die ich je gelesen habe.
Und wird damit seinem Thema absolut gerecht: Wer einen Hund mit Deprivationssyndrom darin unterstützen möchte, seinen Weg ins Leben zu finden, braucht einen langen Atem, viel Geduld und muss vor allem mit Bedacht vorgehen.
„Aber der hat überhaupt keine schlechten Erfahrungen gemacht!“, rufen Hundehalter:innen aus, die sich nicht erklären können, warum ihr Hund vor Allem und Jedem Angst zu haben scheint. Tatsächlich ist es so, dass keine Erfahrungen sich unter Umständen sehr viel gravierender auswirken können, als schlechte. Das ist dann der Fall, wenn – vor allem in der sogenannten Sozialisierungsphase, also in sehr jungem Alter – Umwelt- oder soziale Reize fehlen.
„Deprivationssyndrom“ – was ist das?
Deprivation kommt vom lateinischen deprivare: berauben – betroffene Hunde wurden der Chance beraubt, sich mit Umweltreizen auseinanderzusetzen.
Das kann auf solche Hunde zutreffen, die in Stall, Keller oder Zwinger geboren und aufgezogen wurden, aber auch auf solche, die den Beginn ihres Lebens auf einem Bauernhof verbracht haben. Letztere können in ihrer gewohnten Umgebung guter Dinge sein und ganz und gar „normal“ wirken, aber ihnen fehlt jegliche Erfahrung mit den Anforderungen eines Lebens in der Stadt.
Sie haben sozusagen keine Erfahrung darin, neue Erfahrungen zu verarbeiten.
Die Konsequenzen eines solchen Mangels an Erfahrungen werden als Deprivationsschäden bezeichnet, die Summe der Schäden als Deprivationssyndrom. Typische Symptome eines Deprivationssyndroms sind ausgeprägte Ängstlichkeit, erhöhte Stressanfälligkeit, Hyperaktivität sowie Störungen der Konzentrationsfähigkeit.
Wibke Hagemann und Birgit Laser, die mit Ivey und Frida selbst Hunde mit Deprivationssyndrom durchs Leben begleitet haben, möchten Hundehalter:innen dabei helfen, auch deren Hunden den Weg zu ebnen. Ganz langsam.
Leben will gelernt sein betrachtet mit großer Akribie jeden einzelnen Punkt, der einem Hund mit großem Nachholbedarf Schwierigkeiten bereiten könnte: von der Gewöhnung an Untergründe und Geräusche, über das Aushalten lernen unvermeidbarer Berührungen, bis hin zu einem Abbruchsignal, um Verhalten, das dem Hund schaden könnte (Stichwort: Aufnehmen von Futter) beenden zu können, ohne ihn zu ängstigen.
Hin und wieder hab ich mich dabei erwischt, dass ich dachte „Wirklich? So kleinschrittig?“ …
Aber ja: Genau SO kleinschrittig!
Wir Menschen neigen so sehr dazu, viel zu ungeduldig zu sein, zu vieles als selbstverständlich vorauszusetzen. Die Autorinnen erklären auch das sehr geduldig: warum etwas, das uns nur ein winziger Schritt zu sein scheint, für den Hund eine gigantische Hürde sein kann.
Einzelne Übungen werden exemplarisch in winzige Teilschritte aufgegliedert, so dass auch Menschen, die noch keine Erfahrung mit strukturiertem Training haben, den Anleitungen gut folgen (im Sinne von „sie erfolgreich nachmachen“) können. Anderes wird mit Hilfe praktischer Beispiele erläutert.
Lernprozesse wie Alleinbleiben, Autofahren oder auch Leinenführigkeit werden vergleichsweise kurz behandelt. Da sie allerdings auch vielen anderen Hundehalter:innen Kopfzerbrechen bereiten, gibt es bereits entsprechende Trainingsanleitungen an anderer Stelle.
Auch Hinweise auf Möglichkeiten, Hunde mit Deprivationsschäden durch spezielle Fütterung oder auch Medikamente zu unterstützen, fehlen nicht. Auf die Empfehlung von Homöopathie und Bachblüten hätte ich für mein Teil gerne verzichtet, da für diese keinerlei Wirkung über den Placebo-Effekt hinaus nachgewiesen ist. Was mir dagegen sehr gut gefallen hat, ist die Anleitung für den Aufbau eines „alles okay!“ sowie eines „gute Laune“ Signals, um den Hund in Schrecksituationen beruhigen zu können oder ihn einfach mal in fröhliche Stimmung zu versetzen. Vor allem letzteres erscheint mir wichtig: Es darf – allen Schwierigkeiten zum Trotz – auch mal leicht und fröhlich sein!
Für wen eignet sich dieses Buch?
Leben will gelernt sein würden in einer idealen Welt solche Menschen lesen, die erwägen, einen „kostengünstigen“ Rassewelpen unklarer Herkunft zu kaufen, ein Hundekind vom Bauernhof zu sich zu holen oder einen Hund zu retten, der sein bisheriges Leben in einem Shelter zugebracht hat. Die einen, um sie womöglich doch noch von ihrem Plan abzubringen, die anderen, damit sie gut vorbereitet sind auf das, was mit einiger Sicherheit auf sie zukommt.
Für Menschen, die vermuten oder bereits wissen, dass ihr Hund unter Deprivationsschäden leidet, ist es eine Goldgrube!
Aber es muss gar kein gravierender Schaden sein: Auch Trainer:innen, Tierheim-Mitarbeiter:innen und Halter:innen solcher Hunde, die aus anderen Gründen unsicher und leicht zu ängstigen sind, können diese mit Hilfe von Wibke Hagemann und Birgit Laser optimal unterstützen.
Info zum Buch
Verlag: Birgit Laser Verlag
Dezember 2013
Taschenbuch, 257 Seiten
ISBN-10: 3980981045
ISBN-13: 978-3980981040
Tipp: Am besten direkt beim Verlag bestellen! Hier: „Leben will gelernt sein“