Ich bin „berüchtigt“ dafür, Wörter auf die Goldwaage zu legen, etwa als Admine der Facebook-Gruppe von Trainieren statt Dominieren. Besonders beliebt mache ich mich immer mit meiner sofortigen Einmischung, wenn jemand nichtsahnend von seinem 4-jährigen Golden Retriever und dem neuen Hovawart-Welpen als „Rudel“ spricht. Warum werde ich da gleich zum Fräulein Rottenmeier? Es wissen doch alle, was gemeint ist!
Die Goldwaage
Die Goldwaage ist zunächst ein notwendiges Instrument, wenn man sich zu einem bestimmten Thema präzise ausdrücken möchte. Vor allem bei fachlichen Fragen wäre es ziemlich sinnlos, über etwas zu diskutieren, wenn sich nicht einmal alle Beteiligten (so weit wie möglich) einig sind, worum es geht … Die Differenzen kommen dann schon von ganz allein. Aber daran, dass man mit einem Begriff nicht dasselbe meint, sollte die Verständigung nicht scheitern.
Außerdem machen Begriffe gerade dann einen Riesenunterschied, wenn es um einen Paradigmenwechsel geht, und genau dazu trage ich seit Jahren bei, so viel ich kann. Das bedeutet, es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, die bisher verbreitete Thesen widerlegen – zum Beispiel die Triebtheorie oder das Rudelführertum. Ein Begriff transportiert ja nicht nur einen „rein sachlichen“ Inhalt, sondern ist in einem bestimmten Zusammenhang entstanden. Er ist mit diesem Kontext verbunden, und wenn man sich in diesem Kontext nicht mehr bewegen möchte, weil er überholt ist, braucht man eben einen neuen Begriff. Wir sprechen ja heute auch vom „Signal“ und nicht mehr vom „Befehl“ oder „Kommando“ (hoffentlich).
Rangordnung
„Dominant“ oder „Rangordnung“ sind Begriffe, die auf Hunde so einfach nicht zutreffen. Die Vorstellung von der „Rangordnung“ entstand ursprünglich aus der Beobachtung von Wölfen in Gefangenschaft – teils nicht verwandten Individuen, die in Gehegen gehalten wurden. Dass das dort beobachtete Verhalten nicht dem natürlichen Verhalten von Wölfen entspricht, wurde seit D. Mechs Studie von 1999 (Alpha Status, dominance and division of labor in wolf packs. Canadian Journal of Zoology 77) mehrfach bestätigt. Das war also der erste Fehler.
Diese Vorstellungen dann auf Hunde zu übertragen, war der zweite. Wir stellen Theorien zur „Kernfamilie“ auch nicht auf, indem wir Gefängnis-Insassen beobachten (nicht verwandte Individuen, die in Gefangenschaft …).
Rudel
Ähnlich ergeht es dem Begriff „Rudel“. Den auf unsere Haushunde anzuwenden, ist nicht richtig, denn ein Rudel besteht aus miteinander verwandten Tieren, sprich: Einer Familie. Umso falscher ist es folglich, sich auch noch als Mensch da einzubeziehen (und sich als „Rudelführer“ zu bezeichnen).
Straßenhunde, die ja die Wahl hätten, tun sich selten zu größeren Gruppen zusammen, weil es schlicht keine Vorteile bringt. Die Nahrungsressource „menschlicher Abfall“ erfordert keine Kooperation wie z. B. die Jagd nach großen Huftieren, im Gegenteil – je weniger sich an demselben Müllhaufen bedienen, umso besser. Verwilderte Hunde bilden zwar Gruppen, aber keineswegs einen hierarchisch organisierten Sozialverband.
Sie tun das nicht einmal unter den gleichen Haltungsbedingungen wie die „ursprünglichen Gehegewölfe“ – eine wild zusammengewürfelte Hundegruppe in einem Tierheim beispielsweise. Hunde bilden nicht annähernd ähnliche „Hierarchien“!
„Although dominance based on competition and aggression does occur among wolves in captivity, dogs kept under similar conditions do not establish hierarchies.“
John Bradshaw: Dog Sense. Basic Books 2012, S. 83
Die Nummer mit dem Menschen als „Rudelführer“ ergibt für Hunde also überhaupt keinen Sinn! Sie können das nicht verstehen, es hat nichts mit ihrem „natürlichen Verhalten“ zu tun.
„Dominanzbeziehungen“ im Hinblick darauf, welches von zwei Individuen sich in der Konkurrenz um eine Ressource durchsetzt, hat man bei frei lebenden, verwilderten Hunden nur in Punkto Paarungsverhalten beobachtet. Nicht einmal das können wir auf unsere Haushunde übertragen, so wie sie mit uns leben, denn sie dürfen sich nicht nach Belieben fortpflanzen oder sind kastriert.
Warum sind solche „Feinheiten“ so wichtig?
Erst einmal macht es im Verständnis nicht viel Unterschied, ob ich von einem Rudel oder einer Gruppe spreche, das stimmt. Aber dann geht es an die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis, sprich: An unsere Hunde. Wir möchten ja die Ursachen eines Verhaltens verstehen, um es evtl. zu verändern. Die vermutete Ursache führt mich zur wahrscheinlichen Lösung – wie ich die Ursache beseitigen kann. Und da geht’s los.
Mal ein Beispiel: Der Hund springt meine Kinder an, wenn sie im Garten herumrennen.
Bin ich der Ansicht, der Hund sei „dominant“, dann muss ich annehmen, dass die Lösung lautet: Dominanter sein als er. Ihm seinen Platz in der Rangordnung klarmachen, nämlich unter den Kindern, die er gefälligst nicht zu maßregeln hat. Er kann nicht einfach so respektlos sein und meinen Führungsanspruch in Frage stellen.
Ja, das sind alles Begriffe, die dann fallen. Und in der Folge werde ich wahrscheinlich ziemlich „streng“ zu meinem Hund, denn ich muss ja meinen Rudelführer-Status durchsetzen. Sprich: Respekt einfordern, ihn meinerseits maßregeln, mal deutliche Grenzen setzen. Habe ich damit das „Problem“ gelöst? Höchstwahrscheinlich nicht – im besten Fall traut der Hund sich nur nicht mehr, die Kinder anzuspringen, weil er gehemmt ist. Im schlimmsten Fall hat er Angst vor mir, dann nimmt die Beziehung des Hundes zu mir und/oder den Kindern ernsthaft Schaden. Oder er brüllt auf dem Spaziergang neuerdings andere Hunde an …
Gehe ich davon aus, dass der Hund aus „Erregung“ springt, weil das Spiel der Kinder so aufregend und spannend ist, lautet die Lösung: Entspannung. Spielenden Kindern ruhig zuschauen lernen. Es ist meine Aufgabe als Bezugsperson, ihm dieses Verhalten (durch Management und Training) zu ermöglichen. Punkt. „Problem“ gelöst? Sehr wahrscheinlich, und mein Hund findet die Kinder und mich immer noch großartig. Ganz ohne Rangordnung …
Wörter transportieren Gedanken, und Begriffe geben unserer Interpretation sozusagen einen Rahmen vor. Deshalb ist die Goldwaage ein sehr wichtiges Gerät zur Justierung von Feinheiten!
Tipps*
Dieser Text enthält mit (*) markierte Affiliate Links. Wenn du darauf clickst und über diesen Link einkaufst, bekommt die Feine Maus! von dem betreffenden Anbieter eine Provision. Für dich verändert sich der Preis durch dieses kleine „Dankeschön“ nicht!
Foto © Berezko via canva.com