Kürzlich habe ich mich mit einer Bekannten unterhalten. Sie hat arg über ihren Hund geschimpft. Sie sagte mir, ihre sture, dickköpfige Terrierdame wollte einfach nicht hören, als sie gemeinsam auf der Hundewiese waren. Sie habe sie gerufen, aber Bella sei einfach nicht zurückgekommen.
Schlimmer noch, Bella sei sogar direkt in einem Mauseloch abgetaucht. Hilflos habe sie zusehen müssen und dabei überlegt, den Hund einfach aus dem blöden Loch heraus zu ziehen! Als dann ein anderes Frauchen mit ihrem Hund auf der Wiese Ball spielen wollte und dieser beim zweiten Wurf dicht an Bella vorbei flog, schoss die Jack Russell Terrier Hündin aus dem Mauseloch, erwischte die Beute noch vor dem anderen Hund und rannte mit dem Ball davon.
Sie habe ihren dickköpfigen und sturen Terrier gerufen, jedoch ohne Erfolg. Ihre Hündin hat sogar im Zuge der Auseinandersetzung um den Ball den anderen Hund weggeknurrt und nach ihm geschnappt! Meine Bekannte war entrüstet.
„Die sind einfach unerziehbar!“, führte sie an und dies hat ihr dann auch die andere Hundebesitzerin attestiert.
„Terrier halt. Stur, dickköpfig und sehr dominant! Da muss man sich schon durchsetzen!“
Solche und ähnliche Fälle sorgen immer wieder dafür, dass unsere Erwartungen an unseren Hund mit denen der Umwelt, die wir unsererseits gern erfüllen möchten, kollidieren: Wir haben uns einen unkomplizierten, fröhlichen Begleiter durch Dick und Dünn erhofft, unsere Umwelt erwartet, dass er niemanden beeinträchtigt, oder stört – er soll sich angemessen benehmen und vor allem „gehorchen“. Unsere eigenen Emotionen und die Liebe für unseren Hund erhalten immer wieder kleine Dämpfer, Enttäuschung macht sich breit, wenn das Training nicht fruchtet, der Hund einfach nicht hören will! Es einfach nicht verstehen will! Dabei machen wir doch alles! Aber der ist einfach zu dickköpfig!
Aber ist das wirklich so?
Von Klebeetiketten und Warenausgabe
Fangen wir beim Begriff an: „Labeling Approach“ oder auch „Etikettierungsansatz“ ist eine soziologische Denkrichtung, die sich mit von der Norm abweichendem Verhalten beschäftigt.
Label oder Etiketten kennen wir alle. Wir finden sie auf allen Produkten, die wir kaufen können. Sie werden aufgeklebt, damit wir wissen, welche Bestandteile enthalten sind und wieviel es kostet. Samt Barcode wird jedes Produkt anhand seines Etiketts identifiziert und ausgewiesen. Wir können dieses Produkt also jederzeit an seinem Etikett oder Label (wieder)erkennen. Das funktioniert so hervorragend, dass wir genau wissen, was uns bei einer flachen, rechteckigen, lila Verpackung und leicht verschnörkelter Schrift erwartet – um welche Schokoladenmarke es sich handelt. Unser Geschmacksgedächtnis sagt uns sogar genau, wie diese zu schmecken hat! Je nachdem, welches Bild auf die Verpackung gedruckt ist, wissen wir obendrein, um welche Sorte es sich handelt. All das, ohne wirklich die Worte lesen zu müssen!
Der Wiedererkennungswert ist so stark ausgeprägt, dass Hersteller eventuelle Veränderungen der Verpackung in ihrer Werbung erwähnen (zumeist mit dem Hinweis auf unveränderte Qualität) oder aber nur geringfügige optische Veränderungen vornehmen, um keine Umsatzeinbußen durch irritierte Kunden zu riskieren! Das „V“ auf der Verpackung veganer Lebensmittel ist mittlerweile so weit verbreitet, dass viele vegan lebende Menschen schon gar nicht mehr auf die Produktdeklarierung schauen, sondern sich einfach auf das „V“-Label verlassen und wissen: Es ist vegan!
Wir sind also sehr stark von Etiketten und Labels geprägt und orientieren uns daran, um Produkte zu erkennen und den Inhalt einzuschätzen.
Super! Und was hat das nun mit Lebewesen zu tun?
Von Soziologie und sturen Hunden
In der Soziologie wird der Etikettierungsansatz benutzt, um abweichendes Verhalten zu erklären. Dieser Erklärungsansatz geht davon aus, dass abweichendes oder unerwünschtes Verhalten sozial zugeschrieben wird, objektiv aber gar nicht vorhanden ist.
Hä? Aber der Hund, der ist doch stur! Der tut einfach nicht, was er soll! Obwohl er es kann und obwohl er das Rufen doch gehört hat!
Bist du dir da ganz sicher? Beginnen wir mit einem Beispiel aus dem zwischenmenschlichen Bereich:
Häufig wird Menschen, deren Gewicht über einem bestimmten, willkürlich festgelegten Wert (BMI) liegt, unterstellt, sie seien unglücklich. Ob diese Menschen selbst mit ihrem Gewicht zufrieden sind und sich wohlfühlen, wird gar nicht erst gefragt. Wenn ich einem übergewichtigen Menschen außerdem noch das Etikett „faul“ aufklebe, weil ich es so gelernt habe, dann reduziere ich seine ganze Persönlichkeit und sein ganzes Selbst, all seine Probleme auf ein einziges Attribut seines Äußeren. Nicht einmal auf sein gesamtes Aussehen, da „übergewichtig“ weder das biologische Geschlecht noch zum Beispiel die Haare beschreibt, oder das Gesicht, die Augen, die Form der Arme …
Dabei kann ich gar nicht wissen, ob er wirklich faul ist! Ich weiß nicht, warum er übergewichtig ist. Isst er zu viel? Oder isst er falsch? Ist er krank? Etc. Das Etikett klebt nun aber auf dem Menschen. Schon eine Körperfülle oberhalb der Norm führt in vielen Kulturen zu Ablehnung. Mit meinem Etikett „faul“ füge ich nun noch ein weiteres Merkmal hinzu, welches ebenfalls abgelehnt wird.
Es ist bekannt, dass Menschen mit Übergewicht sich in vielen Fällen weniger körperlich betätigen, ungern ins Schwimmbad, ins Fitnessstudio oder aber ins Freie gehen, als sogenannte Normalgewichtige. All das zu tun, könnte aber dazu beitragen, dass der Grundumsatz steigt und Gewicht leichter abzubauen ist. Das Etikett „faul“ scheint also zuzutreffen.
Nur handelt es sich dabei nicht um eine objektive Betrachtung der Gesamtsituation und der Persönlichkeit des jeweiligen Menschen. In vielen Fällen besteht durchaus der Wunsch, Fitnessstudio oder Schwimmbad aufzusuchen. Die Scham sowie die Angst vor Ablehnung sind jedoch oft so groß, dass die Betroffenen sich in ihrer Wohnung verkriechen und nicht nach draußen gehen mögen, um sich zu „zeigen“. Sozialkontakte werden in vielen Fällen stark abgebaut oder beschränken sich auf soziale Medien. Das Grundbedürfnis nach Kontakt wird nicht oder nur unzureichend gestillt und dieses unerfüllte Bedürfnis, diese Leere, wird mit kohlehydrathaltigen Lebensmitteln zu füllen versucht, welche für eine Serotoninausschüttung sorgen und damit vorübergehende Wohlgefühle auslösen. Dies sorgt dann für noch mehr Gewicht und langfristig für Schmerzen und schnelle Ermüdung bei Bewegung. Hinzu kommt die Ablehnung von außen. Zudem beeinflussen der psychische Druck sowie die bestehende Etikettierung („fett“, „faul“) das Selbstbild des übergewichtigen Menschen: „Ich bin ja eh fett, da ist es doch sowieso egal …!“
So schließt sich der Kreis. „Faul“ und „fett“ als Etiketten werden scheinbar immer wieder bestätigt und bestimmen dann wiederum den Umgang miteinander: Jemand, der augenscheinlich aufgrund mangelnder Bewegung („Faulheit“) fett ist, wird ganz anders behandelt als solche Menschen, die durch eine offensichtliche Erkrankung, also nicht durch eigenes „Verschulden“, übergewichtig sind. Für Menschen, welche für ihre Situation nichts können, also schuldlos ausgeliefert sind, verspüren wir Mitgefühl und Verständnis. Unsere Emotionen gegenüber Menschen, die „selbst schuld“ sind an ihrer Situation, sind dagegen negativ geprägt. Von diesen Menschen erwarten wir, dass sie sich mehr bewegen und weniger essen sollen – schließlich können wir selbst das auch.
So kommt unter Umständen mit „mangelnde Disziplin“ ein weiteres Etikett hinzu. Hier in Deutschland gehört „Disziplin“ aber durchaus zu den Grundwerten. Wird einem Menschen also dieser fehlende Grundwert attestiert, sinkt er weiterhin im Ansehen! Der Druck auf übergewichtige Menschen steigt nochmals an und ihr Selbstbild verschlechtert sich immer mehr. Das Label bricht also nicht nur eine ganze Persönlichkeit samt ihrer Lebensumstände auf ein einziges Attribut herunter, sondern bewirkt gleichzeitig, dass der Umgang mit dieser Person, die mitschwingenden Emotionen und Erwartungen, dementsprechend angepasst werden.
In der Soziologie werden Verhaltensweisen, welche von den gesellschaftlichen Erwartungen abweichen und Labels wie zum Beispiel „Diebstahl“, „Schulverweigerung“, „Gewaltbereitschaft“ etc. tragen, auf ihre eigentlichen Ursachen untersucht. Aber auch für den „Hausgebrauch“ können wir auf diese Art Attribute wie „stur“, „dickköpfig“, oder auch „frech“ und „unhöflich“ als von außen zugeschriebene Attribute enttarnen:
Nämlich immer dann, wenn wir nicht ein Verhalten neutral beschreiben (der Hund buddelt), sondern ein Persönlichkeitsmerkmal wertend zuschreiben (der Hund ist dickköpfig).
Vor allem in solchen Momenten, wo unser Gegenüber (Hund oder Mensch), nicht das tut, was wir erwarten oder uns wünschen – wir also enttäuscht oder verärgert sind – neigen wir dazu, Verhalten quasi durch die getönte Brille unserer Bewertung zu betrachten. Damit färben wir allerdings die Motivation, die dem Verhalten zugrunde liegt, gleich mit ein: Aus dem Hund, der buddelt, weil es Spaß macht, weil es da lecker nach Maus riecht, wird der dickköpfige Hund, der nicht hören will, dem wir einfach nicht wichtig sind, der das womöglich nur macht, um uns zu ärgern.
Wir wandeln durch unsere Bewertung also nicht nur ein Verhalten in ein Persönlichkeitsmerkmal um, sondern wir unterstellen außerdem noch eine bestimmte Motivation, einen Vorsatz. Wir beginnen, das Verhalten unseres Hundes „persönlich zu nehmen“, und verändern so unsere eigenen Emotionen ins Negative: Aus unserem vergnügten Hundekumpel wird der dominante Hund, der seine Grenzen austestet.
Auf diese Weise landen wir schnell in der „Diagnosefalle“: Wir kleben das Etikett, mit dem wir eigentlich nur ein Verhalten beschreiben wollten, fest auf den Hund. Das Mauseloch ist längst vergessen, wir haben jetzt einen dominanten Hund, ein Problem, gegen das wir unbedingt etwas unternehmen müssen – das hören wir immer wieder von Trainer:innen, Tierärzt:innen und den Leuten auf der Hundewiese.
Gebuddelt hat der Hund nur ein paar Minuten lang, dominant ist er rund um die Uhr. Wir sind also andauernd mit einem Problem beschäftigt, das eigentlich nur hin und wieder einmal aufgetreten ist.
Das führt dazu, dass unsere Emotionen sich nachhaltig verändern: Es macht nicht mehr wirklich Freude, einfach nur Zeit mit dem Hund zu verbringen, wir sind verunsichert, weil es uns nicht gelingt, den Hund „vernünftig zu erziehen“, zweifeln an unserem Bauchgefühl und fühlen uns ständig von Menschen unter Druck gesetzt, die uns und unseren Hund kritisch zu beäugen scheinen. Weil das Etikett aber nun einmal klebt, verwenden wir es für alle Situationen, in denen der Hund nicht das tut, was wir uns wünschen, oder von ihm erwarten.
Gleichzeitig hören wir auf, nach (anderen) Gründen für sein Verhalten zu suchen: „Er setzt sich nicht, weil er stur ist“, statt „er setzt sich nicht, weil er gerade zu aufgeregt ist, oder weil der Boden kalt und nass ist“. Weil wir nicht mehr über die Gründe für sein Verhalten nachdenken, können wir sie nicht beseitigen und der Hund wird das Verhalten immer wieder zeigen. Das Label bestätigt sich also immer wieder selbst und wird zur self fulfilling prophecy (sich selbst erfüllende Prophezeiung).
Mit dem Etikett, das wir in einem einzigen Moment aufgeklebt haben, verändern wir unsere Sicht auf unseren Hund und dessen Bedürfnisse, unsere Emotionen und damit auch unser Verhalten ihm gegenüber. Unsere Beziehung wird merklich schlechter, die anfängliche Euphorie, mit der wir dieses Wesen liebevoll erziehen, zu unserem besten Freund machen wollten, verfliegt. Aus unserem lustigen Hundekumpel ist ein Problemhund geworden.
Was können wir stattdessen tun?
Jedes Mal, wenn wir ein einziges Attribut verwenden möchten, um ein Verhalten zu beschreiben, können wir uns fragen
- was genau der Hund in diesem Moment eigentlich tut
- was an seinem Verhalten uns stört, enttäuscht oder ärgert
- und ob es uns zum Beispiel immer stört, oder nur jetzt, in diesem Moment
Manchmal hilft es, das Ganze „umzudrehen“ und zunächst das Etikett genau unter die Lupe zu nehmen:
„Sie ist eine Prinzessin, er ist ein kleiner Tyrann“
- Was genau stellen wir uns unter einer Prinzessin vor?
- Was ist ein Tyrann und wie behandelt er seine Untertanen?
- Passen diese Beschreibungen wirklich auf unseren Hund?
Wir können üben, das Verhalten unseres Hundes genau zu beobachten:
- Wie sieht seine Körperhaltung aus: Kopf, Rücken, Läufe, Rute?
- Wie bewegt er sich?
- Wie sieht seine Mimik aus: Augen, Schnauze, Ohren?
- Was für Laute gibt er von sich?
Wir können nach Auslösern für sein Verhalten suchen, prüfen, ob es Muster gibt:
- Was ist in diesem Moment noch passiert?
- Was kurz vorher?
- Was an diesem Tag?
- Lässt das Verhalten sich unterbrechen? Wie?
Und wir können Zusammenhänge erschließen: Gibt es Lebensumstände wie Krankheit, Schmerzen, Stress, Veränderungen etc., die das Verhalten auslösen können?
Auf dieser Basis können wir überlegen, welches Verhalten wir in einer bestimmten Situation lieber sehen möchten und wie wir unseren Hund dabei unterstützen können, es zu zeigen.
Beispiel: „Sitz“
- Kann der Hund sich ohne Weiteres hinsetzen oder hat er womöglich Schmerzen, findet die Haltung unbequem?
- Kann er sich jetzt und hier hinsetzen, oder ist der Boden zu nass oder zu kalt?
- Kann er sich konzentrieren, oder ist er gerade viel zu aufgeregt?
- Hat er das Signal wirklich verstanden?
- Habe ich das Signal in ausreichend vielen unterschiedlichen Situationen geübt?
Wenn ich nicht alle Fragen mit „ja“ beantworten kann:
- Welches Verhalten könnte ich stattdessen abfragen?
- Wie kann ich ihm langfristig helfen, das erwünschte Verhalten zu zeigen?
- Aber auch: Ist es wirklich wichtig, dass er genau dieses Verhalten zeigt?
Das ist der Moment, in welchem Verhaltenstraining beginnt: Wenn ich aufhöre, mein eigenes Verhalten an vermeintliche Tatsachen („mein Hund ist …!“) anzupassen und stattdessen das seine wertungsfrei beobachte. Wenn ich mir überlege, welches Verhalten ich gerne sehen würde (und warum eigentlich) und wie ich ihn darin unterstützen kann, es zu zeigen.
Auf diesem Weg werde ich vielleicht nicht „Verhaltensprobleme in drei Übungseinheiten lösen“ (wie es manche Werbung verspricht), aber ich werde eine Menge Verständnis für und Wissen über meinen Sozialpartner, Freund und Kumpel Hund erwerben.
Und – wenn ich ehrlich bin – nicht nur über ihn, sondern auch über mich und meine Mitmenschen.
Foto © Jodie777 via canva.com