Wenn das Gespräch auf die Impulskontrolle unserer Hunde kommt, wird gern auf die „Löffeltheorie“ verwiesen, welche besagt, dass wir uns diesbezügliche Fähigkeiten unserer Hunde wie eine Besteckschublade mit einer begrenzten Anzahl von Löffeln vorstellen können: Jede Übung, jede Situation, die dem Hund Selbstbeherrschung abfordert, verbraucht ein bis zwei oder noch mehr Löffel – so lange, bis keine Löffel mehr übrig sind. Ist das der Fall und kommt es zum Beispiel zu einer Hundebegegnung oder einer Wildsichtung zu viel, verliert der Hund die Fassung und steht ggf. brüllend in der Leine.

Die Besteckschublade

Hierbei wird davon ausgegangen, dass dem Hund quasi eine Besteckschublade pro Tag zur Verfügung steht. Da Hundehalter:innen ja diejenigen sind, die über den Tagesablauf ihres Hundes entscheiden, wird ihnen oft geraten, die „Löffel sorgsam einzuteilen“. Häufig wird mit Verweis auf die Löffeltheorie der Verzicht auf sogenannte „Impuls-Kontroll-Übungen“ wie zum Beispiel das Warten vor dem Napf empfohlen, damit die Impulskontrolle sich nicht zu früh erschöpfen möge.

Im Großen und Ganzen klingt das einleuchtend. Aber was steckt eigentlich dahinter?

Streng genommen ist die Löffeltheorie überhaupt keine Theorie (wie die Lern- oder Spieltheorie), sondern lediglich ein Bild. Und zwar eines, welches gesunden Menschen verdeutlichen soll, dass chronisch Kranke ihre Energie sorgsamer einteilen müssen, weil sie nicht in der Lage sind, kurzfristig zu regenerieren. (1) Dieses anschauliche Bild wurde später auf (auch gesunde) Hunde übertragen mit der Begründung, Hunde seien im Gegensatz zu Menschen ja nicht in der Lage, selbst über ihren Tagesablauf zu bestimmen. (2)

Letzteres ist zwar richtig, aber auch Menschen ist es nicht gegeben, für jeden Moment ihres Lebens zu entscheiden, oder gar zu planen, ob und wann sie in belastende Situationen geraten. Die Antwort auf die Frage, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, gesunde Hunde mit chronisch kranken Menschen zu vergleichen, bleibt der Artikel schuldig. Natürlich sind auch die Energiereserven gesunder Menschen und Hunde begrenzt. Allerdings kann eine Aktivität, die einen gesunden Menschen kaum ein Achselzucken kostet, bei chronisch Kranken dazu führen, dass für sie „der Tag gelaufen ist“: Sie haben damit ihr Reservoir ausgeschöpft und benötigen überdies sehr viel mehr Zeit, um sich wieder zu erholen.

Und – bei dem Löffelchen-Bild geht es um Energie! Wie es dazu kam, dass aus „Energie“ „Impulskontrolle“ wurde, ist bislang ebenfalls ungewiss … Natürlich: Impulskontrolle verbraucht Energie! Allerdings tun beliebte Aktivitäten wie Rennen, Spielen, Schnüffeln oder Buddeln das auch. Wenn es nur um Energie ginge, müssten wir jede Aktivität unserer Hunde sorgsam planen.

Und was ist jetzt mit der Impulskontrolle?

Auch hier ging es zunächst um den Menschen: In den 1990er Jahren führte Roy Baumeister das „Schokolade-Radieschen-Experiment“ durch. (3) Die Teilnehmer:innen wurden in einen Raum geführt, der nach frisch gebackenen Schokoladenkeksen duftete. Es lagen auch Kekse bereit, aber nicht alle durften davon kosten – ein Teil der Proband:innen war stattdessen angewiesen, Radieschen zu essen. Bei einem anschließenden Test, der die Ausdauer und Beharrlichkeit der Proband:innen bei einem Puzzle nachweisen sollte, schnitten diejenigen, die sich die Schokokekse hatten verkneifen müssen, deutlich schlechter ab als die, deren Willenskraft nicht auf die Probe gestellt worden war.

Der Unterschied zwischen Schokoladenkeksen und Radieschen war also sozusagen die Geburtsstunde der Theorie, die menschliche Willenskraft gleiche einem Muskel, der sich bei Beanspruchung erschöpft.

Fun fact
Die Tatsache, dass Schokokekse – sehr im Gegensatz zu Radieschen – eine Menge Zucker enthalten, also Energielieferanten sind, welche die Konzentrationsfähigkeit verbessern, scheint die Versuchsleitung nicht angefochten zu haben. Ebenso wenig wie die Frage, ob die Teilnehmer:innen zum Zeitpunkt des Versuches hungrig waren.

Diverse weitere Studien schienen dieses Ergebnis dennoch zu bekräftigen und wurden 2012 in einer Meta-Studie, also einer Zusammenfassung bestehender Studien, mit einem entsprechenden Ergebnis ausgewertet. (4)

Alles klar also? Leider nein.

Wie aussagekräftig eine Studie ist, hängt sowohl von der Anzahl der Teilnehmer:innen, als auch von ihrem Aufbau ab. Sogar die Erwartungen, die an ihr Ergebnis gestellt werden, können eine Rolle spielen.

Daher wurde eine weitere Studie durchgeführt, bei der die Anzahl der Proband:innen sehr viel größer war als bei den vorherigen Versuchen. Zunächst wurde ein sogenannter video-viewing attention control task durchgeführt: Die Teilnehmer:innen schauten ein Video ohne Ton an, in welchem eine Frau interviewt wird, während gleichzeitig Wörter eingeblendet werden. Die Aufgabe bestand darin, die Wörter zu ignorieren und die Aufmerksamkeit nur auf die Frau zu richten.

Anschließend wurde die Merkfähigkeit der Teilnehmenden getestet, die nun Rechenaufgaben lösen und sich gleichzeitig Buchstaben merken sollten. Bei der 2016 veröffentlichten Studie (5) (6) gelang es nicht, die bisherigen Ergebnisse zu reproduzieren.
Stattdessen lautet die Schlussfolgerung, dass weitere Untersuchungen nötig sind.

Aber ich merke doch, dass die Impulskontrolle meines Hundes sich erschöpft!

Keine Frage: Wenn mein Hund die Begegnung mit Artgenossen stressig findet und eben eine solche Herausforderung bewältigt hat, kann ich mir an fünf Fingern abzählen, dass ich besser keine weiteren „riskieren“ sollte: Die Wahrscheinlichkeit, dass er die Fassung verliert, steigt von Mal zu Mal an.

Das entscheidende Stichwort an dieser Stelle ist „Stress“.

Wenn wir uns in Gefahr glauben, schüttet unser Körper zunächst Adrenalin und Noradrenalin aus, die uns innerhalb von Sekundenbruchteilen in Alarmzustand versetzen: Ohne Nachzudenken entscheiden wir, ob wir kämpfen, fliehen, oder uns tot stellen wollen. Cortisol (auch Stress-Hormon genannt) wird dann ausgeschüttet, wenn der Alarmzustand länger als ein paar wenige Sekunden anhält; es wirkt nicht ganz so schnell, dafür aber länger anhaltend.
Diesen uralten Mechanismus, der ursprünglich unser Überleben garantieren sollte, zu unterdrücken, ist an sich schon anstrengend. Und da Cortisol sich nur sehr langsam abbaut, verbleiben wir im Alarmzustand. Das macht es immer schwieriger, unsere Impulse zu kontrollieren.

Wir kennen das: Wenn wir einen stressigen Tag hinter uns haben, kann uns eine Kleinigkeit aus der Hose springen lassen, über die wir sonst nur milde gelächelt hätten. Wir erliegen Versuchungen, denen wir ansonsten locker widerstanden hätten.

Unseren Hunden geht es nicht anders.

Es kann sinnvoll sein, einen Spaziergang nach einer herausfordernden Begegnung zu beenden. Womöglich reicht es aber auch, bei weiteren Begegnungen eine große Distanz einzuhalten, den Hund ganz in Ruhe eine Weile schnüffeln oder im hohen Gras Leckerchen suchen zu lassen. Auch „Dampf ablassen“ in Form von Rennen und Toben kann eine Hilfe sein. Last not least: Oxytocin, das „Kuschelhormon“, ist ein Cortisol-Gegenspieler. Neben konditionierten Entspannungssignalen kann auch mal eine Runde knuddeln der Selbstbeherrschung wieder auf die Beine helfen.

Denn ebenso wie wir sind unsere Hunde in der Lage, zu regenerieren.

Ein häufiger Stressor im Leben unserer Hunde kann Frustration sein. Ganz und gar vermeiden können wir Frustration – ebenso wie Stress – nicht: Wir können nicht jedes Bedürfnis unserer Hunde sofort erfüllen. Manche erfüllen wir nie.

Was wir jedoch vermeiden können: Frustration ohne Not generieren. Häufig wird dazu geraten , Aufmerksamkeit heischendes Verhalten wie Fiepsen, Stupsen, Spielzeug bringen etc. so lange zu ignorieren, bis der Hund es nicht mehr zeigt. Das funktioniert zwar irgendwann, da Verhalten, das nicht zum Erfolg führt, seltener gezeigt wird. Es lässt aber außer Acht, dass hinter jedem Verhalten ein Bedürfnis steckt. Wir machen nichts falsch, wenn wir die Bedürfnisse unserer Hunde nach Möglichkeit erfüllen! (7) Im Gegenteil: Ein Hund mit einem gut gefüllten „Bedürfnismagen“ (8) kommt sehr viel besser damit zurecht, wenn hin und wieder eines unerfüllt bleibt.

Auch im Training stellt sich bei Mensch und Hund Frustration ein, wenn Bemühungen erfolglos bleiben. Es sollte daher nicht nur so kleinschrittig aufgebaut sein, dass der Hund die gestellte Aufgabe zu lösen vermag, sondern auch beendet werden, bevor Aufmerksamkeit und Konzentration erschöpft sind. Wird dieser Punkt versehentlich überschritten, kann das Training mit einer leichten Übung, die der Hund sozusagen „im Schlaf“ bewältigen kann, abgeschlossen werden.

Impulskontrolle üben

Ganz ohne Übung geht es nicht! Hunde zu füttern, wenn sie ihren Kopf nicht schon in den Napf stecken, bevor dieser an seinem Platz steht, ist sehr viel angenehmer – umso mehr, je größer der Hund ist. Spätestens dann, wenn mehrere Hunde zu füttern sind, verhindert die Fähigkeit, bis zur Freigabe des Futters zu warten, Ressourcenstreitigkeiten. Nicht einfach aus der Tür zu stürmen oder aus dem Auto zu springen kann überlebensnotwenig sein.

Welches Maß an Impulskontrolle an welchen Punkten tatsächlich vonnöten ist, richtet sich nach den Lebensumständen von Hund und Mensch: Führt der Weg aus der Haustür in den eingezäunten Garten, ist es kein Problem, wenn mein Hund einfach hinausläuft. Wohnen wir an der Straße, ist es sicherer, wenn ich vorangehe.

Zunächst einmal benötigt der Hund eine Handlungsalternative – nicht verhalten kann er sich nicht. Wird ein solches „Alternativverhalten“ positiv auftrainiert und womöglich ein ganzes Ritual etabliert, das dem Hund Erwartungssicherheit gibt (z.B. wenn es um die Zubereitung des Futters geht), entwickelt sich mit der Zeit Routine. Der Hund kann das erwünschte Verhalten zeigen, ohne dass es ihn große Anstrengung kostet.

Impulskontrollübungen um ihrer selbst willen können dagegen frustrierend wirken und haben überdies keinen Nutzen, da Impulskontrolle immer in der Situation geübt werden muss, in welcher sie benötigt wird. Impulskontrolle überträgt sich nicht: Ein Hund, der minutenlang vor seinem gefüllten Napf ausharren kann, wird deshalb keineswegs Impulskontrolle an einem aufspringenden Hasen zeigen.

Wirklich nicht? Von Ute Blaschke-Berthold gibt es diesen wunderbaren Hinweis (aus einem Online-Seminar, daher leider ohne direkte Quellenangabe) in Sachen Impulskontrolle: Ein gut verstärktes Signal wie ein Rückruf stellt ebenso einen Impuls dar wie ein flüchtendes Kaninchen. Folgt der Hund beharrlich dem Kaninchen, übt er also erfolgreich Impulskontrolle aus! Er widersteht … dem Rückruf.

Welpenhalter:innen, die von Anfang an alles richtig machen wollen, fragen hin und wieder nach Impulskontrollübungen für Welpen. Das ist löblich, übersieht aber, dass allein das Erlernen der Stubenreinheit eine Rund-um-die-Uhr-Impulskontrollübung ist. Welpen müssen lernen, beim Spiel mit dem Menschen nicht kräftig zuzubeißen, keine Hosenbeine zu jagen und noch viele vermeintliche Kleinigkeiten mehr. Das ist für die ersten Wochen Übung genug.

Generell fokussieren wir uns bei unseren Überlegungen zur Impulskontrolle gerne auf Verhalten, welches wir nicht wollen. Wie häufig auch solche Dinge, die wir wollen – Leinenführigkeit, auf dem Weg bleiben, Orientierung am Menschen zum Beispiel – unseren Hunden Impulskontrolle abfordern, übersehen wir regelmäßig.

Fazit

Impulskontrolle ist keine begrenzte Ressource, die dem Hund als „fixe Tagesration“ zur Verfügung steht und deswegen eingeteilt werden muss. Sie kann sich im Zusammenhang mit Frustration und/oder Stress erschöpfen und erholt sich in Entspannungsphasen und bei angenehmen Aktivitäten.

(1) Christine Miserandino, The Spoon Theory (But You Don’t Look Sick?, abgerufen am 22.11.2022)

(2) It’s only funny until your dog runs out of spoons (Your Dog’s Friend, abgerufen am 22.11.2022)

(3) Hans Villarica, The Chocolate-and-Radish Experiment That Birthed the Modern Conception of Willpower, Interview mit Roy Baumeister (The Atlantic, abgerufen am 22.11.2022)

(4) Denise T. D. de Ridder et al., Taking Stock of Self-Control: A Meta-Analysis of How Trait Self-Control Relates to a Wide Range of Behaviors (Personality and Social Psychology Review 16(1) 76–99, abgerufen am 22.11.2022)

(5) John H. Lurquin et al., No Evidence of the Ego-Depletion Effect across Task Characteristics and Individual Differences: A Pre-Registered Study (PLoS ONE 11(2): e0147770, abgerufen am 22.11.2022)

(6) Lars Fischer, Das Willenskraft-Problem der Psychologie (Spektrum.de, abgerufen am 22.11.2022)

(7) siehe „Authentisch – mit Hunden“!

(8) aus Martina Maier-Schmid, Grenzen setzen 3.0


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