Zur Zeit ist in meinem Leben leider kein Platz für einen eigenen Hund. Stattdessen darf ich die Hunde von Freund:innen sitten und/oder spazieren führen! Von diesen Hunden mag ich erzählen.

Einer von ihnen – der Gustav nämlich – ist ein erwachsener Rüde und hat ein Problem mit Hundebegegnungen. Genau genommen hat er schon ein Problem mit Hundesichtungen. Dann schießt er bellend nach vorn und steht – weil die Leine seinen Schwung bremst – im wahrsten Sinne des Wortes senkrecht.

Ich meinerseits habe zwar Freude daran, mit ihm spazieren zu gehen, möchte dies aber möglichst stressfrei tun. Als allererstes gehe ich also Ärger buchstäblich aus dem Weg: Es ist nicht so, dass ich Hundebegegnungen ganz und gar meiden würde; dieser Versuch wäre – weil unrealistisch – von vornherein zum Scheitern verurteilt. Stattdessen arbeite ich an einer Strategie, die Gustav und mir hilft, im richtigen Leben bestmöglich zurechtzukommen.

Legal

Im ersten Schritt setze ich auf Distanz: Ich suche unsere Gassi-Strecken so aus, dass ich a) vermeintliche „Feinde“ möglichst früh wahrnehme und b) Gelegenheit habe, diesen weiträumig auszuweichen. Und das ist völlig legitim.

Aber wann ist Distanz Distanz?

Wie weit muss ein anderer Hund entfernt sein, damit Gustav ihn zur Kenntnis nehmen kann, ohne die Fassung zu verlieren? Das kann durchaus bedeuten, dass ich in 100 Metern Entfernung einen Hund ausmache und dann erst einmal untätig herumstehe. Herumstehe, weil ich Zeit brauche, die Situation einzuschätzen:

Kommt dieser Hund überhaupt in unsere Richtung, oder biegen Hund und Halter:in ab? Welchen Eindruck machen sie auf mich? Ist/wird der Hund angeleint? Habe ich eine Möglichkeit, auszuweichen? Muss ich vielleicht ein Stück zurück gehen?

Egal

Gleichzeitig stehe ich mit der unguten Vorstellung herum, dass ich „irgendwie seltsam“ wirke. Inkompetent auch: Augenscheinlich fehlt es mir in diesen Momenten ja am nötigen Selbstvertrauen, meinen Hund einfach „souverän durch die Situation zu führen“. Wahlweise auch an der nötigen Fachkompetenz: Ich habe diesen Hund nicht „im Griff“!

Für mich allerdings bedeutet Souveränität an dieser Stelle etwas vollkommen anderes: Ich halte solche Situationen aus!
Ich halte mein eigenes Kopfkino aus, das mir erzählen will, was andere Menschen in solchen Momenten über mich und meine Fähigkeiten denken. Und manchmal auch missbilligende Blicke.

Ich tu einfach, was ich für notwendig halte, um den mir anvertrauten Hund bestmöglich durch jedwede schwierige Situation zu begleiten. Mit einem Maximum an Unterstützung.

Und natürlich gibt es auch Sternstunden! Wenn etwa mein Gegenüber auf ca. 100 Meter ebenfalls innehält, zu uns herüber äugt und die Lage einzuschätzen versucht. Wenn wir durch Zurufe und Gesten Verständigung erzielen und es auf diese Weise tatsächlich gelingt, unser beider Hunde ohne Krawall aneinander vorbei zu steuern.

Vorerst allerdings stehen wir herum, der Gustav und ich. Mit einem „Feind“ am Horizont …

Und doch: Das ist Training! Es ist ja nicht so, dass Gustav den anderen Hund nicht wahrnähme. Er kann ihn sehen, hören, riechen … halt nur, ohne sich aufregen zu müssen. Und das ist, was er in diesem Moment lernt: Da ist ein „Feind“ und ich rege mich einfach mal nicht auf!

Selbstverständlich klappt das nicht immer – das wäre ja wirklich zu schön!

Signal

Hin und wieder muss ich die nötige Distanz improvisieren und zwar sehr viel schneller, als mir lieb ist. Dann hängt Gustav womöglich schon brüllend in der Leine, was bei einem Hund seiner Größe nicht nur ziemlich beeindruckend, sondern auch schwer zu handeln ist. Ich muss also blitzschnell irgendeine Möglichkeit finden, die direkte Konfrontation zu vermeiden – zur Not, indem ich im nächstbesten Gebüsch verschwinde oder auf den Acker ausweiche.

Manchmal wusste ich mir nicht anders zu helfen, als Gustav kurzerhand aus dem Weg zu zerren. Was ich dabei gelernt habe: Ihn hinter mir her zu ziehen, erzeugt großen Widerstand! Besser ist, selbst rückwärts zu gehen und ihn mit mir mitzunehmen: So habe ich den „Feind“ weiterhin im Auge, kann aber auch sehr genau sehen, wie viel Abstand Gustav tatsächlich benötigt. Sowie er sich zu entspannen beginnt, kann ich es auch tun!

Gleichzeitig stelle ich mein Tun „unter Signal“. Neue Methoden hin, Trainingspläne her – für mich hat nach wie vor Gültigkeit, was mich meine allererste Trainerin gelehrt hat: „Sag das einfach dazu, dann hat er das schonmal gehört!“

Ich „unterlege“ mein anfängliches Zerren also mit einem freundlichen Singsang: „Wir weichen aus!“

Meine Worte sind keine „Handlungsanweisung“, sondern begleiten einfach mein Tun, ich kann sie problemlos mehrmals wiederholen. Der freundliche Tonfall überträgt meine Stimmung. Und ich vermittle gleichzeitig den entgegenkommenden Hundehalter:innen, was ich im Schilde führe

Zum guten Schluss passiert schließlich folgendes: Sobald die Distanz groß genug ist, kann Gustav sich entspannen und ruhig beobachten. Auf den Singsang hin folgt also auf jeden Fall (Entspannung ist selbstbelohnend!) eine Belohnung!

Es dauert nicht lange, bis Gustav auf das Signal „wir weichen aus!“ auch ohne Zug auf der Leine gemeinsam mit mir Distanz aufnimmt. An guten Tagen muss ich nicht einmal mehr etwas sagen. Gleichzeitig verstärke ich jede Form deeskalierenden Verhaltens: Hund in Sichtweite und Gustav schnuppert am Boden? Prima!

Verbal

Sofern die Distanz stimmt, ist Gustav in der Lage, an entspannter (!) Leine dazustehen und den anderen Hund ruhig zu beobachten. Wenn das gelingt, „webe ich einen Lobteppich“: Beginnend mit den Worten „gucken ist okay!“ versichere ich ihm leise und freundlich, dass er ein wunderbarer Hund ist, alles richtig macht, der Schönste und Beste ist … es ist eigentlich völlig egal, was genau ich sage. Ich hülle ihn einfach in Wohlwollen.

Zusätzlicher Vorteil dabei: Ich informiere andere Hundehalter:innen darüber, was ich gerade tue. Die Reaktionen darauf sind überwiegend positiv.

Ganz oft, wenn Gustav genug geschaut hat, wendet er sich zu mir um und fragt nach einer Futterbelohnung. Genau genommen belohne ich mit dem Futter nicht das Schauen, sondern das Abwenden. Und ja: Ich belohne ihn, wenn er danach fragt! Mittlerweile allerdings ist er häufig schon damit zufrieden, sich einfach anderen Dingen zuzuwenden.
Damit wiederum bin ich sehr zufrieden: Denn an und für sich ist die gelassene Begegnung mit anderen Hunden ja keine Glanzleistung, sondern etwas ganz Normales!

Wenn Gustav es also schafft, angesichts eines „Feindes“ von sich aus genug Distanz aufzunehmen, um sich noch wohlzufühlen, und dann seinen Fokus auf etwas zu richten, das ihm Freude macht, dann braucht es keine Futterbelohnung von meiner Seite. Was nicht bedeutet, dass ich ihn nicht gebührend feiern sollte!

Suboptimal

Was ich tue, wenn die Distanz einmal einfach nicht ausreicht und mein Hund dann doch senkrecht steht? Nix weiter.
Das ist dann halt einfach mal blöd gelaufen. Shit happens! Also warte ich ab, bis er sich wieder beruhigt hat und setze den Spaziergang anschließend fort. In diesem Fall allerdings versuche ich wirklich, jede weitere Hundebegegnung zu vermeiden: Wenn die Nerven einmal blank liegen, wird es umso schwieriger, gelassen zu bleiben.

Das gilt im Übrigen auch, nachdem Gustav zwei, drei Begegnungen gut gemeistert hat: Auch wenn es (er) nicht laut geworden ist, hat es ihn Anstrengung gekostet – danach sollte die Gelegenheit bestehen, das Erlebte ganz in Ruhe „sacken zu lassen“.

Überflüssig zu sagen, dass all das nicht immer so geschmeidig funktioniert …

Manchmal renne ich ganz und gar unverhofft in Begegnungen rein, finde keine Möglichkeit, kurzfristig auszuweichen … und habe es dann womöglich mit solchen Hundehalter:innen zu tun, die ihren eigenen Hund in solchen Momenten ins „Sitz“ bringen. Die stehen dann wie angenagelt da und erwarten augenscheinlich, dass ich meinen Hund irgendwie an dem ihren vorbei manövriere. Das mag manchmal wirklich gut gemeint sein, kann Übungszwecken, oder aber – nicht ganz so nett – der Demonstration dienen, dass sie ihren Hund „im Griff!“ haben. Und klappt mal mehr, mal weniger gut – meistens weniger. Je schneller ich meinen Gustav also aus dieser Bredouille hole, desto besser!

Was dann passiert, ist nicht wirklich schön: Ich fasse die Leine (am Geschirr!) kurz, halte meinen Hund auf der abgewandten Seite und passiere den „Feind“ so zügig wie nur irgend möglich. Dementsprechend lautet das Hörzeichen „Zackzackzack!“.

Ob ich glaube, dass er das irgendwann von sich aus umsetzt? Eher nicht. Aber es vermittelt ihm immerhin, was in diesem Moment passiert, und bietet damit Erwartungssicherheit.

Die – auch nicht wirklich schöne – Alternative besteht darin, dass wir „den Feind“ passieren lassen. Grundsätzlich habe ich kein Problem damit, Gustav in solchen Situationen zu halten, da sticht Technik Größe und Gewicht. Stehe ich aber am Hang, auf matschigem Boden oder beides gleichzeitig, laufe ich Gefahr, von den Füßen geholt zu werden.

Im ersten Anlauf habe ich ins Geschirr gegriffen und Gustavs Vorderkörper soweit angehoben, dass die Vorderpfoten den Boden knapp nicht mehr berührt haben. Das ist effizient, aber gar nicht schön. Stattdessen habe ich begonnen, ihn „liebzuhalten“: Ich umarme ihn sozusagen und greife dabei so unter dem Brustkorb hindurch, dass ich diesen zur Not leicht anheben kann. Er „hängt“ also nicht im Geschirr, sondern ich halte ihn im Arm.

Obacht: Aus Hundesicht ist ein solches Vorgehen sehr übergriffig und bewegungseinschränkend! Es kann durchaus zu rückgerichteter Aggression führen, bei der der Hund sein Aggressionsverhalten gegen den Menschen richtet und diesen schwer verletzen kann.

Bei Gustav, der sich grundsätzlich gern knuddeln und halten lässt, habe ich es für vertretbar gehalten, dieses Risiko einzugehen.

Und … na klar: Auch für dieses Vorgehen gibt es ein Hörzeichen: „Da müssen wir jetzt durch!

Ritual

Anfangs hat diese Art „den Hund zu halten“ meiner Sicherheit gedient – so war ich mir sicher, auch auf ungünstigem Untergrund auf den Füßen zu bleiben. Mittlerweile ist „Da müssen wir jetzt durch!“ ein erprobtes Ritual: Ich muss gar keine Kraft mehr aufwenden, um Gustav zu halten. Und er geht auch nicht mehr wirklich nach vorne.

GRÖÖÖÖÖÖH!“ muss er, wenn es arg ist, immer noch „sagen“ – so ganz unkommentiert kann er stressige Begegnungen noch nicht an sich vorbei gehen lassen, aber es ist ein Kommentar, keine völlige Eskalation. Und was ich so bemerkenswert wie drollig finde: Sowie der Moment der frontalen Annäherung überstanden ist, stutzt Gustav, wirkt geradewegs verblüfft und schweigt urplötzlich. Jetzt kann er „dem Feind“ auf einmal gelassen hinterher schauen und schnuppern.

Sofern sich die Gelegenheit ergibt, stalken wir dann – gehen dem anderen Team hinterher, so dass Gustav in aller Ruhe Eindrücke sammeln kann.

Hörzeichen und Stimmungsübertragung nutze ich übrigens auch sehr gerne im Umgang mit Menschen!

Ich beginne mit einem fröhlichen „Hallo!“, erkläre gegebenenfalls „das wird jetzt kurz mal laut“ und rufe – wenn es wirklich blöd läuft – auch schon mal „Entschuldigung!“. Ich biete Blickkontakt, ein Lächeln … Verständigung.

Weil: Wenn mein menschliches Gegenüber sich entspannt, fällt das auch dem dazugehörigen Hund sehr viel leichter. Häufig enden solche Begegnungen damit, dass wir (aus der gebührenden Distanz) noch ein paar Worte wechseln, während die Hunde einander betrachten. Im Idealfall überlegen wir gemeinsam, wie wir die nächste Begegnung möglichst entspannt über die Bühne bringen.

Spezial

Ich habe entweder ein begnadetes Talent zur Auswahl der Gassistrecke oder lebe auf einer Insel der Seligen. Vielleicht wirke ich aber auch ungewöhnlich abschreckend, wer weiß … Fakt ist, dass wir das Problem „unangeleint heranballernder Tutnix“ nur ausnahmsweise haben. Aber selbstverständlich kommt es vor!

Was ich dann tue? Ich lasse die Leine fallen.

Eigentlich selbstverständlich, dennoch sei es eigens erwähnt: Meine Handlungsweise ist in meiner Umgebung für meinen Hund geeignet! Weder hat er Angst vor anderen Hunden noch ernsthaft beschädigende Absichten. Er nutzt auch nicht jede Gelegenheit, am Horizont zu entschwinden. Kommt ein unangeleinter Hund zu uns her, ist das in diesem speziellen Fall also mein Mittel der Wahl.

Weil ich mir sicher bin, dass es die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit ist, die Gustav die meisten Probleme bereitet. Fällt die weg, reagiert er deutlich entspannter. Was nicht bedeutet, dass er freundlich wäre! Aber der allererste Kontakt findet sozusagen in einem „Gleichgewicht der Kräfte“ statt: Beide Hunde können sich frei bewegen. Sollte es nötig sein, hebe ich das Ende meiner 5-Meter-Leine vom Boden auf, angele mich ohne Zerren zu Gustav hin und nehme ihn dann ruhig aus der Situation. Mit der Betonung auf „ruhig“!

Oh doch, ich bin in der Lage, einen solchen Tutnix mit meiner schieren Präsenz zu stoppen! Und ich könnte auch dem dazugehörigen Menschen eine krachende Ansage machen.

Aber was wäre damit gewonnen? Ich führe meinem Hund vor, dass bei unverhofften, aber grundsätzlich ungefährlichen Zusammentreffen Aggression das Mittel der Wahl ist. Ich sorge dafür, dass auch das andere Hund-Mensch-Team maximal unentspannt ist und mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls aggressiv reagiert.

Stattdessen verfahre ich auch hier nach dem Motto „shit happens“. Es ist blöd, ja! Ich hätte es lieber vermieden! Aber mein Hund wird weder den anderen massakrieren, noch leidet er unter Ängsten, die eine (Re)traumatisierung nach sich ziehen könnten. Im Training wird eine solche Begegnung uns vielleicht zurückwerfen … vielleicht auch nicht.

Da kann ich ebenso gut freundlich bleiben.
Notiz an mich selber: „Shit happens!“ als Hörzeichen einführen!

Mittlerweile – und diese Weile war gar nicht mal sooo lang – benötige ich „Zackzackzack!“ und „Da müssen wir jetzt durch!“ nur noch selten. Stattdessen gehört nun auch die direkte Begegnung mit ausgewählten Hunden zu den Dingen, die wir üben. Aber davon mag ich ein anderes Mal berichten.


Mehr zum Thema!


Fotos © Iris Blitz